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Montag, 3. November 2014

Beispielhafte Inklusion: Die Musikgruppe Saitensprung des Vereins Lebenshilfe im Kreis Miltenberg


Die Musiker von Saitensprung von links Reinhold Spall, Esther Barella, Tobias Schneider, Michael Bäuerlein, Simone Faust, Susanne Schlosser, Timo Buhleier, Laura Trenn, Jutta Oberle, Maria Erhardt, Walter Ottenbreit-Stoß und Markus Meixner.
Es herrscht lebhaftes Treiben im Musikraum der vom Kreisverband der Lebenshilfe getragenen Richard-Galmbacher-Schule (RGS) in Elsenfeld. Fröhliches Lachen und munteres Geplapper wechseln sich ab, Stühle werden gerückt und Instrumente ausgepackt. Es ist Montagnachmittag, kurz nach 17 Uhr, Probenzeit für das Ensemble Saitensprung, das vor 25 Jahren gegründet wurde und bei Konzerten mit frisch-fröhlicher Musik erfreut. Ein Beispiel gelungener Inklusion, denn es sind überwiegend Menschen mit geistiger Behinderung, die zusammen mit Nichtbehinderten musizieren.

Von Anfang an mit dabei: Sonderschullehrerin Jutta Oberle und Simone Faust, die beide Violine spielen.
Die musikalische Begabung von Menschen mit einer geistigen Behinderung wird beflügelt von einer unbändigen Freude an der Musik und einem völlig unverkrampften Umgang miteinander. Das ist bei der Probe zu spüren, die jeden Montagnachmittag in der RGS stattfindet. Bevor es ans Musizieren geht, tauschen die Mitglieder ihre Erlebnisse aus der vergangenen Woche aus und lassen noch einmal das Jubiläumskonzert Revue passieren, das anlässlich des 25-jährigen Bestehens von Saitensprung gemeinsam mit dem Ensemble von Vogelfrey am 28. September in Kleinwallstadt stattfand. Markus, der Charmeur in der Gruppe, schaut hin und wieder aus dem Fenster und lächelt den vorbei eilenden Damen vom Personal zu, die das Gebäude verlassen.
Timo (links) am Hackbrett und Tobias am Bass-Psalter.
„Ich habe letzte Woche einen Waldbeerenbecher gegessen mit Blaubeeren drin, und da musste ich an dich denken“, sagt Timo und sieht die Saxofonistin Esther Barella mit einem breiten Lächeln an. Sie arbeitet zurzeit als Referendarin in der RGS und bereichert die Musikgruppe mit dem sonoren Klang des Saxofons. Wie sie ist auch der Wörther Reinhold Spall erst viel später zu Saitensprung gestoßen. Er hatte das Ensemble im Elsenfelder Bürgerzentrum bei einem Konzert erlebt und gefragt, ob er mitspielen dürfe. Seitdem sind bei den Saitensprung-Konzerten auch Mandolinenklänge zu hören.

Maria schlägt die Trommel und Markus spielt Akkordeon.

Als „Urvater“ der Gruppe ist Walter Ottenbreit-Stoß zu bezeichnen. Er hatte mit seiner Idee, Schüler der Galmbacher-Schule mit selbstgebauten Instrumenten musizieren zu lassen, einen Impuls ausgelöst, der 1989 zu der Gründung eines Ensembles führte. Seine Kollegin Jutta Oberle (Violine, Harmonium, Glockenspiel und Nyckelharpa, was auf deutsch Schlüsselfidel heißt) stieg gleich mit ein. Seit Anfang mit dabei sind auch die ehemaligen Schüler Simone Faust (Querflöte, Violine), Maria Erhardt (Hackbrett) und Markus Meixner (Akkordeon, Harmonium, Glockenspiel, Rhythmusinstrumente). Kurz danach kam auch noch Susanne Schlosser (Psalter, Shrutibox, die in in der Bauart einem indischen Harmonium ohne Tasten entspricht) mit dazu und Tobias Schneider (Bass-Psalter, Trommel, Gesang), Michael Bäuerlein (Tenor-Psalter, Bass-Psalter) sowie Timo Buhleier (Hackbrett) schlossen sich an. Lange Zeit spielte Christiane Knorr mit, die dann in die Dorfgemeinschaft Hohenroth zog. Seit wenigen Jahren ist auch Laura Trenn (Psalter, Gesang) mit dabei. Neben Walter Ottenbreit-Stoß, der Gitarre spielt, der Geigerin Jutta Oberle und der Saxofonistin Esther Barella wirkt als vierter RGS-Lehrer Heiko Jörg-Roepke (E-Bass, Baglama, Banjo) im Saitenprung-Ensemble als aktiver Musiker mit.


Als Gründer der Gruppe zupft Walter Ottenbreit-Stoß die Gitarre bei Saitensprung im Hintergrund Reinhold Spall, der seit knapp zwei Jahren mitspielt. 
Heiko war diesmal für den Probennachmittag entschuldigt. Umso größer ist die Überraschung, als er später mit zwei Freunden auftaucht. Es sind Bandmitglieder der indischen Rock-Gruppe Kryptos, die 15 Tage durch ganz Europa getourt war. Die beiden hängen noch einige Tage dran, um den bayerischen Untermain kennen zu lernen. Heiko übersetzt vom Englischen ins Deutsche und umgekehrt. „Das Schönste, was sie hier bis jetzt gesehen haben, war der Blick von Kleinwallstadt aus in den Spessart“, dolmetscht er und bringt damit alle zum Lachen. Kurzerhand werden ein paar Schlaginstrumente aus dem Schrank geholt und den Musikern in die Hand gedrückt. Bei der Interpretation des irischen Liedes Dagen Viger ist diesmal eine besonders starke Rhythmusgruppe zu hören.
Markus spielt Akkordeon nur nach Gehör 
und ohne Noten.



Der Schlagzeuger der indischen
Heavy-Metal-Band Kryptos
beherrscht auch das
Trommeln zu Folklore-Musik und
freut sich dabei wie Bolle.





























„Ich hab’s schon lange nicht mehr gespielt, aber ich werd‘ immer besser“, sagt Timo, der von Jutta Oberle für sein fehlerfreies und engagiertes Spiel am Hackbrett gelobt wird. In der kurzen Pause, die nach gut einer Stunde Musizieren eingelegt wird, schauen sich die beiden indischen Gäste die Instrumente an und stellen Fragen. Heiko fungiert wieder als Dolmetscher. Die jungen Männer sind sichtlich angetan von den Saitensprung-Mitgliedern und deren Musik, obwohl sie so ganz anders ist als Heavy Metal.

Das nächste Konzert von Saitensprung findet am Sonntag, 9. November, ab 15 Uhr in der Lebenshilfe-Werkstatt in Aschaffenburg statt. Eine Wiederholung des Jubiläumskonzerts gemeinsam mit der Gruppe Vogelfrey ist für 15. März nächsten Jahres, 18 Uhr, im Schifffahrtsmuseum in Wörth geplant.



Hintergrund Saitensprung
Seit Mitte der 70er Jahre baut der Sonderschullehrer Walter-Ottenbreit Stoß (Aschaffenburg) Saiteninstrumente und hat dies auch im späteren Studium in eine fachwissenschaftliche Hausarbeit über die ganzheitliche Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung einfließen lassen. Bei seiner Tätigkeit in der Richard Galmbacher-Schule war es ihm ein Anliegen, die musikalische Begabung der Schüler zu fördern. Er hat Mitte der 80er Jahre damit begonnen, einfache Instrumente zu entwickeln, die von den Kindern einfach zu spielen sind und sie auch keine komplexe Notenschrift beherrschen müssen. Daraus ist dann Ende der 80er Jahre die Gruppe Saitensprung entstanden. Sie hat ihren Namen bei einem ihrer ersten Auftritte in Erlangen erhalten, als während des Vortrags eine Saite zersprang. Schon bald wagten sich die Musiker an zwei- und mehrstimmige Stücke. Das Aufeinanderhören und die eigene Instrumentalstimme zu halten, erforderte erhebliche Übung. Dass daraus schließlich eine Gruppe entstehen würde, die vier- bis fünfstimmige Sätze interpretiert, öffentlich auftritt und Tonträger erstellt, war damals nicht abzusehen. Das Repertoire umfasst heute mehrstimmige Instrumentalmusik vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Tänze aus verschiedenen Ländern und einige Volkslieder. Gemeinsame Konzerte mit der Gruppe „Vogelfrey“, wie zuletzt beim Jubiläumskonzert in Kleinwallstadt, dokumentieren die Qualität der musikalischen Leistungsfähigkeit. Seit Bestehen von Saitensprung wurden zwei Kassetten und vier CDs aufgenommen. Vor knapp einem Jahr, am 29. November 2013, hatte das Ensemble auch einen Auftritt im deutschen Bundestag. 

Übrigens
Orchester  und Singgruppen außerhalb von Saitensprung profitieren von der Begabung der Musiker mit geistiger Behinderung.  Simone Faust hat im Laufe der Jahre neben Psalter auch Klavier, Geige und Querflöte in einer regulären Musikschule spielen gelernt und wirkt  als Geigerin im Jugendorchester mit. Tobias Schneider hat durch das gemeinsame Musizieren bei Saitensprung viel Selbstvertrauen gewonnen, übernimmt  die Begrüßung bei Konzerten, singt nicht nur als Solist in der Gruppe, sondern seit längerer Zeit auch im Männerchor seines Heimatortes Mömlingen mit. Markus Meixner musiziert im Musikverein in Kirchzell und kann autodidaktisch nach Gehör mehrere Instrumente spielen.

Text und Fotos: © Ruth Weitz

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